3.

 

Der Rest des Fluges verlief ohne Zwischenfälle. Kurz vor der Landung legte der Pilot die Maschine zur Seite, damit die Passagiere in den Genuß eines Blickes auf die sonnenbeschienene Stadt kamen. Mein Herz schlug um einige Takte höher, als ich aus der Tasche blinzelte und dieses wie das opulente Modell eines Städtebau-Phantasten wirkende Meisterwerk zum ersten Mal zu Gesicht bekam. O welche Wonne! Da waren sie alle: die tausend Kirchen, die das immerwährende Echo der Antike versinnbildlichenden Ruinen, die von etlichen Brücken gefesselte grüne Schlange namens Tiber und der warme Farbton der zahllosen Palazzi, narzissengelb, rubinrot, rotviolett, rosé … Ein aus Kostbarkeiten geflochtener Flickenteppich, der jeden Betrachter sprachlos machte.

Unten die große Ernüchterung. Der Flughafen unterschied sich kein bißchen von jenem, von dem wir gestartet waren – Zweckbauarchitektur mit Weitläufigkeit vortäuschenden Insignien. Überall hingen überdimensionale Werbebilder, auf denen ziemlich keimfrei aussehende Menschendarsteller einen Don’t-worry-be-happy-Spruch in Legasthenikerenglisch für irgendeinen windigen Vermögensfond zum Besten gaben.

Restaurants, deren Delikatessenangebote allein der Erfindung der Mikrowelle zu verdanken waren, reihten sich aneinander. Ich schätze, alle Flughäfen der Welt besitzen dieses öde Flair. Und wenn es eines fernen Tages Flüge zum Mars geben sollte, wird das erste, was die Menschen dort zu sehen bekommen, eine Quittung über fünf Euro für eine Tasse Kaffee sein oder ein Konzertplakat mit der Visage von Robby Williams.

Es war langsam an der Zeit, mich von meinem Gottesmann zu verabschieden. Die aus dem Flieger in die Passagierbrücke und dann in den Gängewirrwarr herausströmenden Reisenden eilten solchen Schrittes der Gepäckausgabe zu, als wären sie dem Jüngsten Gericht entkommen. Ich aber mußte nun unbemerkt den fliegenden Wechsel von der Tasche zurück zu Gustavs Rucksack schaffen. Doch wo war mein Sänftenträger nur?

Plötzlich sah ich ihn! Nein, lediglich seine Hinteransicht, bestehend aus alberner Golfkappe auf Wassermelonenschädel, Riesenrucksack und blassen, sehr behaarten Waden, die aus lächerlichen Shorts wuchsen.

Gustav ließ sich im Strom der Hetzenden in Richtung Exit treiben. Schier telepathisch zwang ich den Geistlichen, sich ihm zu nähern, was mir nach und nach auch gelang.

Ich mußte nur noch den richtigen Zeitpunkt abpassen, um mit einem Satz von einem Punkt zum nächsten zu gelangen. Darüber nämlich, was mit mir hier in der Fremde, an diesem unübersichtlichen Ort fernab der Stadt geschehen würde, wenn ich den Absprung verpatzte, mochte ich lieber nicht nachdenken. Vielleicht war es doch keine so grandiose Idee gewesen, derart radikal dem Fernweh zu frönen. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich mich für einen Moment danach sehnte, mit den anderen Geisteskranken in der »Pension Pfote« ernsthaft über die Mäuse von Nagor-X zu diskutieren.

Also sprang ich in einem Augenblick, als der Geistliche in enge Tuchfühlung mit den anderen Eilenden geriet und die Erschütterung in der Tasche falsch interpretieren würde, seitwärts aus dem Schlitz heraus. Ich schoß durch die Luft und landete kopfüber im offenen Rucksack, ohne daß es jemand mitbekam. Eigentlich ein toller Erfolg.

Warum sagte mir eine innere Stimme aber dann, daß trotzdem etwas nicht stimmte? In der Dunkelheit des Beutels ging ich dieser immer vernehmlicher werdenden Stimme nach. Das Gefühl, das sie erzeugte, begann mir Angst einzuflößen. Doch es war nicht mein Verstand, der mich schließlich auf die richtige Fährte lotste, sondern meine Nase.

Richtig, weder muffelte es hier drin nach ungewaschenen Socken und Unterhosen, noch roch ich Gustavs spezifischen säuerlichen Schweißgeruch, der sich in den Sachen epochenlang zu konservieren pflegte. Im Grunde roch hier gar nichts nach Gustav. Im Gegenteil, in meinen sensiblen Riechkolben drang der Duft von frischgewaschener Wäsche und kürzlich mit Schuhcreme behandeltem Leder. Kurzum, ich befand mich im Gepäck eines gut vorbereiteten Reisenden. Panik begann sich in mir auszubreiten wie der üble Gestank einer unheimlichen Substanz. Ogottogott, wo war ich nur gelandet?! Und wohin ging die Reise?

Ich beschloß, alle Vorsicht fahren zu lassen und den Kopf wieder aus dem Sack herauszustrecken, um Gewißheit zu erlangen. Es war mir inzwischen vollkommen einerlei, wenn ich dabei beobachtet wurde.

Das hätte ich besser bleiben lassen, denn das, was ich jetzt direkt vor meiner Nase erblickte, entsetzte mich mehr als die Ungewißheit drinnen.

Gustav, der hinter demjenigen herwatschelte, der mich ohne es zu wissen trug, schaute mir wieder einmal geradewegs in die Augen. Er folgte sozusagen seinem Doppelgänger. Ich war in den Rucksack des falschen Dicken geschlüpft! Von der Ferne und von hinten gesehen hätten die beiden sogar eineiige Zwillinge sein können, so sehr ähnelten sie einander. Das hatte man davon, wenn man sich in einen Pulk von Menschen begab: Sie waren sich allesamt zum Verwechseln ähnlich.

Als er mich sah, verzog mein Dosenöffner erneut das Gesicht wie jemand, der beim Überqueren der Straße eine Dampfwalze umarmt. Wieder weiteten sich die Augen zu Schockgröße, wieder vibrierte der Kopf gleich einer angeschlagenen Glocke und wieder öffnete und schloß sich der Mund, ohne daß etwas herauskam. Man konnte seinem verblüfften Ausdruck ablesen, wie in seinem Spatzenhirn verschiedene Erklärungen für das Unmögliche miteinander kämpften. Aber nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, gab er sich am Ende abermals mit der bereits bei unserer ersten Begegnung im Flugzeug gefundenen Theorie zufrieden.

Ich war einer, der seinem Liebling verdammt ähnlich sah.

Daraufhin entspannten sich die Sorgenfalten, ein melancholisches Lächeln flog über sein Gesicht, und er erdreistete sich sogar, meinen Kopf zu streicheln.

»Du schon wieder!« sagte er schließlich. Und weil er ein Ausbund an Originalität war, wiederholte er seinen Lieblingsspruch: »Ich habe zu Hause auch einen von deiner Sorte.«

Dann – ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie die Dinge ihren verheerenden Lauf nahmen – trennten sich unsere Wege. Da Gustav kein weiteres Gepäckstück als den Rucksack hatte, zog er an uns vorbei zum Ausgang und war verschwunden. Das bedeutete, daß mein weiteres Schicksal auf Gedeih und Verderb mit den Reiseplänen des neuen Dicken verknüpft war. Dieser zwängte sich in einen vollklimatisierten Shuttle-Bus, nachdem er einen Koffer vom Band gefischt hatte, und schon rollten wir über die Autobahn.

Während die römischen Vororte, die sich kaum von den heimatlichen Kleinbürger-Schandflecken unterschieden, am Busfenster vorbeizogen, machte ich mir einige Gedanken über die unmittelbare Zukunft. Trotz turmhoher Werbeschilder von IKEA und McDonalds am Wegesrand, die Pestbeulen der Moderne, war es offensichtlich, daß wir nach Rom tuckerten. Die Wegweiser sprachen eine klare Sprache. Und das erfüllte mich mit Zuversicht. Denn ich wußte ja, wo Gustav in den kommenden Wochen wirken würde. Ich mußte also nur meinen falschen Dicken bei erstbester Gelegenheit verlassen und hin und wieder bei dem richtigen Dicken im Forum Romanum vorbeischauen.

Wenn er seine Arbeit erledigt hätte, brauchte ich lediglich wieder heimlich in seinen Rucksack zu schlüpfen und mit ihm die Rückreise anzutreten. Perfekt! Die Frage allerdings, womit ich meinen Magen in der Zeit zwischen Anreise und Abreise füllen sollte, blieb mir selbst nach intensivster Grübelei ein Mysterium.

Nach und nach verschwanden die diskreten Hinweise auf schwedische Möbelhäuser und US-Fleischklopsbuden, der brodelnde Stadtverkehr begann, und hinein ging es ins Schlaraffenland meiner Sehnsüchte. Endlich, endlich, endlich bekam ich die in der Nachmittagssonne gülden strahlenden Straßen mit abgewetztem Kopfsteinpflaster und das ockerfarben dampfende Häusermeer leibhaftig vor Augen! Kein Neubau, kein Beton störten diesen himmlischen Anblick, und hatte ich vorher lediglich in der Theorie verstanden, daß hier die Zeit in Jahrhunderten gemessen werde, sie quasi eine liegende Sanduhr sei, so fühlte ich es jetzt. Freilich fuhr der Bus noch in den Hauptverkehrsadern, wo es weder berühmte Sehenswürdigkeiten noch das kunstvolle Eingeweide der Stadt zu sehen gab. Dennoch erlaubten mir Seitenblicke in Quergassen erste Eindrücke von dem mich zu erwartenden ästhetischen Abenteuer.

Der Bus machte einen Zwischenstop an einer Haltestelle in einer der belebtesten Straßen. In der Ferne sah ich eine große Kreuzung. Eine Blechlawine gigantischen Ausmaßes, begleitet von einem Hupkonzert und deftigen Fluchsalven aus offenen Autofenstern, schob sich im Schneckentempo vorwärts. Da der falsche Dicke offenkundig seelenverwandt mit dem richtigen war, tat er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort das einzig Falsche: Er stieg in diesem Inferno aus. Was er hier zu finden gedachte, war ein Rätsel. Vielleicht ein Ein-Sterne-Hotel mit kostenfreier ganztägiger Abgasdusche. Ich persönlich hatte mittlerweile von beiden Dicken die Nase voll, und als er nach einer kleinen Ewigkeit die Straße überquert hatte, sprang ich einfach aus dem Rucksack auf den Bürgersteig. Mit dem Rücken eng an eine Häuserwand gelehnt, damit ich von Passanten nicht überrannt wurde, schaute ich meinem davontrottenden unfreiwilligen Transporteur nach. Komisch, ich hatte nicht einmal sein Gesicht gesehen. Vielleicht besser so!

Ich blickte mich in dem Gewühl aus vorbeikriechenden Wagen und hetzenden Leuten um. Nach einem Hochglanzfoto aus einem Reiseprospekt sah das Ganze nicht gerade aus. In mir kam erneut leise Panik auf.

Irgendwie hatte ich mir den Start in den Urlaub anders vorgestellt. Dennoch durfte ich mich jetzt auf keinen Fall der Verzweiflung hingeben, da diese sich in einem fremden Land und ohne die Zugehörigkeit zum edlen Menschengeschlecht als tödlicher Luxus hätte entpuppen können. Ich schob jegliches Bangen beiseite und konzentrierte mich, bis mir die Schnurrhaare glühten.

In all den zurückliegenden Jahren hatte ich von Rom nicht nur geträumt. Wenn Gustav zwecks Recherchen seine Bücher aufschlug, so spielte ich auf seinem Schreibtisch meist den Schlafenden. In Wahrheit aber prägte ich mir durch zugekniffene Augen den Sitz der berühmten Baulichkeiten, vor allem aber das komplizierte Netz der bedeutenden Straßen ein. Dieses Wissen sollte mir nun zu Hilfe kommen. Ich hielt Ausschau nach einem Straßenschild und wurde direkt über meinem Kopf auch prompt fündig: Corso Vittorio Emanuele II. Der Name flatterte wie ein verirrtes Gespenst über dem Stadtplan in meinem Gedächtnis umher, um seine richtige Stelle zu finden. Ich überlegte und überlegte und überlegte …

Mit einem Mal machte es Klick. Doch dieses Klick bewirkte nicht nur eine Befriedigung, weil ich jetzt halbwegs die Orientierung gewonnen hatte, nein, es kam einem körperlichen Beben gleich. Ich konnte es kaum glauben. Sollte ich tatsächlich so viel Glück im Unglück gehabt haben? Rasch trippelte ich linksseits, um einen Blick um die Ecke zu werfen. Sollte ich dort nicht das sehen, wovon ich annahm, daß ich es sehen müßte, wollte ich auf der Stelle sterben.

Mein Kopf bog langsam um den Mauervorsprung – und hatte ich vorher Einiges am Gottesplan zu mäkeln gehabt, so wurde ich schlagartig wieder zum Strenggläubigen und konnte nur jubilieren: Halleluja! Vor mir lag nichts Geringeres als die erste Adresse für meinesgleichen in Rom, gewissermaßen die Anlaufstelle für Angehörige der Felidae, welche in die mißliche Lage geraten waren, bar eines Dosenöffners zu sein.

Die untergehende Sonne beschien gleich einer Blutorange einen Ort, den man auf einem Sagengemälde aus dem neunzehnten Jahrhundert vermutet hätte, wo vom klassischen Altertum faszinierte Meister mythologische Bildinhalte der Antike mit europäischen Landschaftsmotiven kreuzten. Doch im Gegensatz zum Kunstidyll wurde diese imposante Tempelstätte vom dichtesten Stoßverkehr umspült, war eine Oase inmitten lärmender Häßlichkeit. Der Largo Argentina in der sogenannten Area Sacra war eine Berühmtheit, und ich hatte schon viel von ihm gehört. Während ich darauf zusteuerte, sah ich über Absperrgitter lediglich die wie Stümpfe in den Himmel ragenden oxidroten ionischen Säulen, deren Rillen und Kapitelle von den Hämmern der Barbaren, vor allem aber vom Zahn der Zeit bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren. Die republikanische Tempelanlage zählt mit zu den ältesten antiken Monumenten in Rom, weshalb sie sich auch vier bis fünf Meter unter dem heutigen Straßenniveau befindet. Meiner Erinnerung nach fanden die ersten Ausgrabungen 1929

statt. Forciert übrigens von einem netten Herrn namens Mussolini. Öffentlich zugänglich sind diese Ruinen für Touristen trotzdem nicht, da hier immer noch sporadisch gebuddelt wird. Aber für unseresgleichen!

Endlich erreichte ich den aus Backsteinen bestehenden Platz, der rechteckig um die Ausgrabungsstätte verlief, und schaute durch die Absperrgitter in den Graben. Die Rudimente zweier breiter Treppenaufgänge zum einstigen Tempel wurden von Säulenspalieren flankiert. Den Tempel selbst und alles, was ihn umgab, mußte man sich anhand der Überreste vorstellen. Denn außer Mauerresten aus Ziegelstein und mächtigen Quadern, Säulenbasen, einem Boden, auf dem sich großflächige Steinplatten und ordinärer Rasen abwechselten, und den bereits erwähnten zahlreichen Säulen in unterschiedlichem Verfallsstadium gab es wenig Konkretes zu sehen. Umrahmt wurde das Ganze von hohen Rundbögen und Toren, die im Dunklen lagen. Der rötliche Schleier der Abenddämmerung hatte sich über die steinernen Zeugen des einstigen Glanzes Roms gelegt, die jetzt sehr lange Schatten warfen.

Weshalb ich aber in meiner verlorenen Lage nun Gottes Namen pries, hatte nichts damit zu tun, daß ich einer Sehenswürdigkeit ansichtig wurde. Wußte ich doch, daß derlei Schätze hier fast vor jeder Haustür lagen. Nein, mit dem Largo Argentina hatte es etwas ganz Besonderes auf sich. Kurz nach den ersten Ausgrabungen nämlich hatten streunende und ausgesetzte Kollegen von mir an diesem verkehrssicheren und menschenleeren Ort Zuflucht gesucht. (Es gibt ungefähr hundertfünfzigtausend solcher Obdachloser in dieser Metropole!) Und dabei war es auch geblieben. Einige Hunderte von ihnen betrachteten seit jeher die Tempelanlage als ihr natürliches Refugium, und schnell wurde die Angelegenheit eine größere Touristenattraktion als der historische Platz selbst.

Allerdings auch ein Ärgernis für die Stadtverwaltung.

Zum Glück aber gab es die »gattare«, Frauen mit Herz, die die Armen mit Futter und medizinischer Betreuung versorgten, wie die 1973 verstorbene unvergeßliche Anna Magnani. Anfang der neunziger Jahre schließlich erließ die Stadtverwaltung ein Statut, wonach alle Römer die Verpflichtung haben, sich um die städtischen Tiere zu kümmern. Somit wurde dem Gezeter und Gezerre, ob die Fütterung mit Essensresten am Largo Argentina sinnvoll und rechtens sei, ein Ende gesetzt. Heutzutage, so hatte ich gehört, ließen sich selbst Prominente aus Showbiz und Politik für die Presse dabei ablichten, wie sie feinste Delikatessen an die »Herrenlosen« verfütterten. Die dadurch wiederum ein paar Speckschichten mehr zulegten, als es ihnen bei ihren ehemaligen »Herren« widerfahren wäre. Ich hatte also allen Grund, das Halleluja!

anzustimmen. Denn mittlerweile hatte mein knurrender Magen die Kontrolle über mein Hirn übernommen und bestand auf der Feststellung, daß wahre Urlaubsfreude nur das ist, was sich saftig zwischen den Zähnen zermalmen läßt.

Ich brauchte nicht lange nach den üblichen Verdächtigen zu suchen. Mehrere Dutzende lagen langgestreckt auf den Abdeckplatten der steinernen Zinnen, die die einzelnen Absperrgitter voneinander trennten. Sie ließen sich ihr Fell von den letzten Sonnenstrahlen erwärmen und zogen bei der Gelegenheit ihr Nachmittagsnickerchen noch ein bißchen in die Länge. Am Fuße der Zinnen und auf den Stufen der Treppen, über welche die Ausgrabungsprofis in die Tempelanlage gelangten, erblickte ich mehrere Haufen von hingeworfener halbverschimmelter Spaghetti Bolognese. Es sah aus wie der Stuhlgang einer kranken Kuh. Ich hatte zwar Hunger, aber dieser mußte aus mir schon einen willenlosen Zombie gemacht haben, damit ich den Dreck fraß. Mit der italienischen Freigebigkeit war es also doch nicht so weit her. Und kein Paolo Conte oder Eros Ramazotti ließ sich mit Putenschnitzelscheibchen in den Händen blicken.

Die Hoffnung brauchte ich jedoch trotzdem nicht aufzugeben. In der Ferne erspähte ich das Gros der Tempelbewohner, ja es war ein richtiger Pulk, der sich auf der podestartigen Ebene oberhalb des antiken Treppenaufganges zwischen den Säulenrudimenten zusammengerottet hatte. Geschätzte fünfzig Zeitgenossen bildeten eine imposante Traube um … na, um was wohl?

Meine reiche Lebenserfahrung sagte mir, daß es sich nur um das liebe Fressen handeln konnte, wenn so viele Einzelgänger den Fellkontakt miteinander nicht scheuten und dicht an dicht drängelten. Da wollte ich natürlich nicht am ersten Tag den Ausländer-Snob hervorkehren und mich den einheimischen Freßsitten verweigern.

Geschwind schlüpfte ich zwischen den Metallstäben eines der Absperrgitter hindurch, lief die Treppe hinunter, wobei ich sorgsam darauf achtete, nicht auf die bereits von einem Grünstich heimgesuchten Spaghetti-Haufen zu treten, und begab mich dann zur Ausgrabungsstätte. Über Holzstege, die über Gräben zwischen freigelegten Mauerzeilen schwebten, und an abgeschlagenen Steinköpfen vom Umfang riesiger Schneebälle vorbei ging es schließlich zur Empore. Dort erwartete mich ein Knäuel aus Haaren unterschiedlichen Kolorits, der wie bei schwerem Seegang auf- und abwog, vorwärts driftete und wieder zurück. Wie es eben so meine Art war, wollte es mir freilich nicht im Traum einfallen, mich brav hinten anzustellen, bis ich an die Reihe kam. Offengesagt befürchtete ich, vor Entkräftung umzufallen, wenn ich die Warteschleife nahm.

Ich quetschte und drückte mich zwischen den Kollegen rücksichtslos nach vorne, was mich wohl nicht gerade zum Aushängeschild für mein Herkunftsland machte. Über Sprachprobleme, falls ich wegen meines rüden Verhaltens von der Seite angequatscht würde, machte ich mir keine Gedanken. Wir verständigen uns nämlich überall auf der Welt mit ein und derselben Sprache. Allerdings ist sie jeweils von regionalen und ländlichen Dialekten geprägt.

Allmählich sah ich über Köpfe und aufgerichtete Ohren hinweg das Zentrum des Gedränges, einen kleinen freien Kreis, auf den alle zustrebten. Dabei lief mir das Wasser nicht nur im Maul zusammen, sondern es tropfte mir schon aus den Maulwinkeln. Es irritierte mich allerdings, daß bei meinen Mitdränglern trotz des Festmahls da vorne und trotz der zu erwartenden Reibereien eine seltsam gedämpfte Stimmung herrschte. Niemand fauchte futterneidisch seinen Nachbarn an oder teilte gar aus, und niemand gab einen Laut von sich. Es war, als würden alle einen schweren Gang gehen. Stieß ich einen der Umstehenden grob zur Seite, kam keine Gegenreaktion; sie ließen es sich einfach gefallen.

Schließlich erfuhr ich den Grund für die Zurückhaltung.

Gerade da verschwand auch der letzte Glutschein der untergegangenen Sonne. Düsternis sank auf den Largo Argentina und blendete nicht nur die kunstvollen Details der Anlage aus, sondern auch die brummenden Verkehrgeräusche ringsherum, ja, sämtliche Geräusche, bis eine gespenstische Stille einkehrte. Ich kämpfte mich zur vordersten Reihe, doch was ich im Zentrum des Kreises sah, war nicht das begehrte große Fressen, sondern eine Leiche, die nicht schrecklicher hätte verstümmelt sein können. Es handelte sich um eine Schwester der Rasse Siam. Sie besaß das typische dunkle Maskengesicht, das sich über vanilleweißem Fell von der Schnauzpartie bis über die Stirn hinweg erstreckte. Auch Ohren, Beine und der Schwanz waren verschattet. Aus diesem hinreißenden Schattenbild ragten die azurblauen Augen hervor – aufgerissene, starre Augen.

Sie lag da, als hätte sie sich in der Mittagshitze zur Seite gelegt und sei eingeschlafen. Daß dies jedoch nicht der Wirklichkeit entsprach, bezeugte etwas derart Grausames, dessen bloße Betrachtung mir den Verstand zu rauben drohte. Dort, wo aus dem linken Teil des Kopfes normalerweise die Ohrmuschel herauswuchs, klaffte ein Loch vom Umfang einer Kinderfaust. Aber nicht nur das Ohr selbst war verschwunden, sondern die gesamte Schädelpartie, in die der Gehörgang, das Trommelfell, Ohrknöchelchen, die sogenannte Schnecke und die Nervenbahnen zum Gehirn eingebettet sind. Alles weg!

Die zertrümmerte Schädeldecke wirkte wie gesprengt und gab die Sicht auf einen blutgeränderten Abgrund frei, in dem das Rosa des zerstörten Hirns, winzige Knochensplitter und eine schleimige Schicht zu sehen waren. Ein Monster hätte kein schlimmeres Übel anrichten können.

Meine Augen füllten sich mit den ersten heißen Tränen, und ein Zittern bemächtigte sich meines Körpers, als hätte sich der Süden schlagartig in den tiefsten Norden verkehrt.

»Scusi, Signore!« hörte ich plötzlich eine Stimme hinter meinem Rücken aus dem Kreis der noch Lebenden.

Ich drehte mich um und blickte in ein Gesicht, das durch ungezählte Kämpfe und unbehandelte Infektionen von Narben und Furchen übersät war. Zwei strahlende Kupferaugen schauten aus dieser rauchfarbigen Kriegslandschaft geradewegs in die meinen.

»Sie scheinen Ausländer zu sein, Signore, und haben so etwas bestimmt noch nie gesehen«, sagte der graue Fremde, dessen ganze Erscheinung einer Daunenfeder-Explosion ähnelte. »Aber bei uns hier in Rom sind solche Anblicke nichts Ungewöhnliches.«

»Irrtum, Signore«, erwiderte ich, während mir die Tränen zum Maul hinabrannen und dann heruntertropften.

»Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Aber ich hatte einen Deal mit Gott, daß er mir dies nie wieder zeigen wird. Wie immer hat er auch diesmal sein Wort nicht gehalten.«